Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land……
Schneewittchens böse Stiefmutter nutzte den Spiegel, um sich ihrer Schönheit zu versichern. So tun wir es alle, jeden Morgen. Wir zupfen unerwünschte Härchen, schminken Augen, Mund und mehr, überprüfen unsere Frisur, Kleidung und Körpermaße. Ein Spiegel gehört zum Inventar eines jeden Hauses und so mancher Handtasche.
Zu äußerer Selbstoptimierung und Selbstkontrolle scheint uns ein Spiegel unerlässlich.
Erinnern wir uns an Narziss. Der junge Mann, der sich in sein Abbild, gespiegelt in der ruhigen Oberfläche eines Sees, verliebte. Eine Gesellschaft, die sich im Posten gewöhnlicher Aktivitäten - wie z.B. essen - bis hin zu intimen Details, selbst persifliert, die eine Unmenge an Bildern jeglicher Lebenslagen und Befindlichkeiten produziert, scheint sich einem kollektiven Narzissmus immer mehr anzunähern.
Wünschenswert wäre, wenn so manche Zeitgenosse*innen ihre Geistesregungen im Spiegel betrachten würden, um endlich in einen Zustand der Selbstreflektion zu transformieren.
Noch spannender ist die Frage, was passiert, wenn ich mich selbst als Spiegel wahrnehme, in dem sich das Außen abbildet? Dann wäre der metaphorische Spiegel dem Bewusstsein gleichzusetzen.
Ich, das Individuum, leer und offen für alles, was sich darin abbildet. Leer von Erwartungen und Zuschreibungen und offen, alle Spiegelungen als Zeugin zu betrachten. Dazu gehört ein hohes Maß an Akzeptanz für alles, was erscheint. Ein hohes Maß an Freundlichkeit, mit der ich dem eigenen Bewusstsein, dem eigenen Geist begegne. Nur dann entwickelt sich Freiheit, die zu Veränderung führt und damit die Fähigkeit zur Modulation des eigenen Verhaltens. Und noch etwas Verheißungsvolles steckt in diesem Bild. Wenn wir unser Bewusstsein als Spiegel begreifen, leer und weit, und bezeugen, was sich jeden einzelnen Augenblick darin spiegelt, werden wir unweigerlich ins Jetzt katapultiert. Jetzt spiegelt sich die Blume die ich pflücke und ich bezeuge dies. Augenblick für Augenblick. Sorgen wir also dafür, dass sich keine Staubschicht auf unseren Spiegel legen kann. Üben wir in der Meditation, die Regungen unseres Geistes zu betrachten. Den Fluss der Gedanken wahrzunehmen, von der Quelle bis zum Versickern in der Peripherie. Gedanken kommen und gehen. Ja, sie gehen, wenn wir sie lassen und kein Öl ins Feuer kippen. Mit jeder Meditation polieren wir den Spiegel, um die Qualität unseres Geistes scharf zu sehen. Stille, Innehalten, Ruhe. Denken wir an ein Tier in der Natur. Es hält inne, um die Umgebung ganz zu erfassen, es steht still, reckt den Hals ein wenig, hält inne. Oder eine Katze vor dem Mauseloch. Still und ausdauernd, geduldig und zielstrebig.
Im Grund gibt es keinen Bodhi-Baum
Da ist kein klarer Spiegel auf einem Gestell
Im Ursprung ist da kein Ding
Worauf soll sich Staub legen
Zen Koan