Nun in dieser Stadt Gottes
Ist ein kleines Haus,
eine Lotusblume;
und in diesem Kleinen
ist ein innerer Raum.
Was in diesem ist,
das muss man erforschen,
das wahrlich soll man
zu erkennen wünschen.
Chandogya-Upanishad 8.1.1
Dieser Text ist den Upanishaden, den ältesten indischen Hymnen, entnommen. Sie zählen zum spirituellen Erbe Indiens und entstanden ca. 1500 Jahre vor Christus.
Upanishad heißt wörtlich übersetzt: inneres Gewahrsein.
In den spirituellen Texten Indiens wird der Mensch als Stadt Gottes betrachtet. In dieser Stadt wohnt das Göttliche. In jedem von uns wohnt also das Göttliche.
Buddhisten sagen, jedes lebendige Wesen hat Buddhanatur und so findet sich die Vorstellung der indischen Weisheitslehren auch im Buddhismus wieder.
Die Chandogya verrät uns auch, wo das Göttliche in uns verortet ist. In einem kleinen Haus in Form einer Lotusblume. Wir müssen in den innersten Kern dieser Lotusblume vordringen, ihn erforschen, ihn erkennen lernen. So empfiehlt es der Gesang der Chandogya.
Meist leben wir Menschen außerhalb dieses inneren Wesenskerns. Wir sind mit unseren individuellen Leben beschäftigt. Mit Familie, Partnern, Lebensunterhalt, mit Freude und Leid, mit Ängsten und Übermut, mit Gedanken und Gefühlen. Die Upanishaden regen uns immer wieder an innezuhalten in Meditation, um das zu entdecken, was jeder Lotusblume von Natur aus gegeben ist. Sie wächst aus dem schlammigen Wasser ans Licht empor und an ihren ausladenden Blättern perlt jegliches Wasser ab. Genau diesen Zustand gilt es zu erspüren. In der äußeren Welt zu leben, zu sein, und sie doch auch loszulassen. Sich nicht von ihr „durchnässen“ zu lassen. Sie darf uns berühren, ja, doch wir sollen erkennen, dass diese Welt außen ist. Für Santosha, die innere Zufriedenheit, ist sie unwichtig. Die Lotusblume gilt in ganz Asien als Symbol für das Gelöstsein von den weltlichen Bindungen. In den Tempeln des Hinduismus und Buddhismus legen Tag für Tag Menschen ihre Hände vor dem Herzen aneinander, um sich mit der Symbolkraft des Lotus zu verbinden. Sie entzünden ein Räucherstäbchen, formen die Lotusblume vor dem Herzen und begeben sich so in ihre Meditation, ihre Rückverbindung mit dem innewohnenden Göttlichen.
Auch wir beginnen und beenden unsere Yogapraxis mit dieser Geste und verbinden uns, bewusst oder unbewusst, mit unserer Weisheit.
Eknath Easwaran schrieb: „Der tiefe Frieden, den derjenige erfährt, der auf das eigennützige Interesse vollkommen verzichtet hat, wird in der Chandogya Upanishad in einem ihrer bewegendsten Vergleiche vermittelt: Wie ein erschöpfter Vogel nach dieser Seite fliegt und nach jener und schließlich auf seiner eigenen Sitzstange, wo er angebunden ist, zur Ruhe kommt, so, mein Lieber, kommt der Geist schließlich in seinem eigenen Selbst zur Ruhe. (VI.8.2)"
Und so wie die Blüten der Lotusblume zuerst fest verschlossen sind und sich langsam, Blüte für Blüte, in ihre ganze Schönheit öffnen, so öffnet sich auch unser Geist, wenn wir innehalten in Meditation. Tag für Tag. Immer wieder.