Schüler fragen mich oft, wann denn die beste Zeit zum Üben sei. Das ist natürlich individuell sehr verschieden und hängt auch von den Lebensumständen ab. Solange das tägliche Üben noch nicht zu
einer Selbstverständlichkeit geworden ist, scheint Disziplin die größte Herausforderung zu sein. Disziplin meint ja nichts anderes als Selbststeuerung. Ich schließe einen Pakt mit mir selbst: ich
versorge meinen Körper mit Bewegung und Entspannung und meinen Geist mit genügend Raum für Selbstreflektion und Stille. Solche Verpflichtungen gehen wir dauernd ein. Sie sind ganz normaler
Bestandteil eines jeden Lebens. Wir essen, schlafen, duschen, putzen die Zähne, kleiden uns, gehen zur Arbeit, nähren unsere Kinder und Alten und und und……unzählige Selbstregulierungen gehören
ganz selbstverständlich in unseren Alltag. Fügen wir also ein weiteres Selbstverständnis hinzu. Yoga/Meditation.
In nahezu allen spirituellen Richtungen ist der frühe Morgen die „heilige“ Zeit. Die Nachtstille ist noch zum Greifen nah, alles schläft. Gerade wir Frauen finden hier die Zeit für uns selbst.
Kinder wecken, Frühstück bereiten, Alte versorgen, mit der/m Partner/in austauschen…..das alles läutet einen arbeitsreichen Tag ein. Jeder Tag beginnt auf diese oder ähnliche Weise. Im
Tagesverlauf fordern verschiedenste Anforderungen unsere Hingabe und Konzentration. Schwer genug. Ob wir uns dann abends noch die Zeit nehmen in Ruhe zu üben? Ich halte das für
ausgesprochen schwierig. Ich bin meist viel zu erschöpft und will nur noch essen und ruhen. Also mache ich es, wie alle meditativen Menschen es uns zu allen Zeiten vorgemacht haben. Ich stelle
meinen Wecker auf fünf oder sechs Uhr und genieße die Stunde der Stille, die ganz allein Meine ist. Oft ist die Sonne noch nicht aus der Dunkelheit geboren. Das unterstützt mich dabei, meine
innere Kellertreppe hinabzusteigen und zu erforschen, was mein Körper/Geist heute braucht. Und wenn das Frühjahr naht, sitze ich in die Morgendämmerung hinein, begleite die Welt beim Erwachen. Im
Sommer zieht es mich dann hinaus und ich begrüße den Tag mit meinem Üben. So ist über die Jahre diese heilige Zeit zu einer Selbstverständlichkeit für mich geworden. Es ist meine Zeit. Und wenn
dann die Herausforderungen des Tages erwachen, kann ich ihnen durchlüftet, gedehnt, beruhigt, beatmet, gekräftigt begegnen.
Der Volksmund sagt: Morgenstund hat Gold im Mund. Das finden die Vögel auch.
Leo Sternberg · 1876-1937
Fünf schlug’s, da hob die Amsel an.
Noch tief geschlossne Morgenruh;
ein einziger Ton der Erde wach!
Ein einziges Herze hörte zu!
Das klang so rein, allmächtig leicht
aus gläserner Weltentempelruh!
Auf einmal klopfte mir das Herz,
und eins war: Himmel, Welt und du!