DER BAUM DES YOGA

 

Vor vielen Jahren, während eines Meditationsretreats, kam ich zum ersten Mal mit den Schriften BKS Iyengars in Kontakt. Meine damalige Yogalehrerin und Zen Meisterin GenKi Österle und ihr Mann, mein Zen Lehrer KyuSei leiteten das Retreat. Eine Woche in Schweigen und Meditation hatten mich mit Ruhe und Inspiration gefüllt und GenKis sprühende Intensität hatte in mir eine große Liebe und Neugier zum Yoga entfacht.

 

Nach der abendlichen Teezeremonie wird in der Altbäckersmühle immer die große thailändische Glocke geschlagen. Sie hängt in einem offenen Glockenhaus und alle Mitübenden, Zen Schüler und Lehrer, versammeln sich, bei Wind und Wetter, um die Glocke und verabschieden den Tag. Die Kälte war unter mein Gewand gekrochen, als der letzte Glockenschlag verklang. Die Stille der Nacht fiel aus den Wäldern zu uns herab. GenKi trat an meine Seite und überreichte mir ein kleines Taschenbuch. Sie flüsterte: schau da mal rein, legte die Hände vor dem Herzen aneinander, verbeugte sich vor mir und ging zurück ins Haus. Ich ging über den Hof und hinauf in mein Zimmer. Ich las die halbe Nacht. Der Baum des Yoga, dieses kleine Büchlein, entzündete ein Licht in mir. Die poetische Sprache, die Tiefe der Betrachtung, die Weisheit des großen Meisters, berührten mich von der ersten Seite an. Ich sog Wort für Wort auf, begann in einer anderen Dimension zu verstehen, wusste intuitiv, dass ich von diesem beseelten Lehrer lernen wollte. Ich habe Guruji nie kennengelernt, aber ich habe von einigen seiner direkten Schüler in den folgenden Jahren viel gelernt, in Liebe und Dankbarkeit. Ich lese dieses Büchlein immer wieder, es ist eins meiner Liebsten. Leider ist es in deutscher Sprache vergriffen. In Indien steht es in jeder Buchhandlung.

 

Iyengar beschreibt darin die acht Glieder des Yogaweges als einen Baum. Von den Wurzeln bis zu den Blüten und Früchten. Er beginnt unter der Erde, mit den Wurzeln. Diese Wurzeln, die wir in allen Asanas spüren, die uns stabilisieren und mit dem Ganzen, dem SoSein, verbinden. Unsere menschliche Entwicklung ähnelt der eines Baumes. Vom Samen/Ei bis zur Reife, bis zum Vergehen. Im Samen eines Baumes ist der ganze Baum enthalten. Im Samen/Ei eines Menschen ist der ganze Mensch bereits angelegt.

 

Aus dem Sämling wächst ein Stamm. Der steht für Citta, das Bewusstsein. Dieser Stamm teilt sich in verschiedene Äste. Einer davon ist Asmita, das kleine Selbst. Über Asmita nehmen wir Menschen unsere Individualität war. Ich bin. Die Wahrnehmung von Asmita beginnt beim Menschen etwa im achten Lebensmonat. Erst dann können wir zwischen ich und du unterscheiden. Viele Babys fremdeln in dieser Zeit. Sie müssen sich langsam daran gewöhnen, sich nicht mehr Eins mit der Mutter/dem Vater zu fühlen.

 

Ein weiterer Ast ist das Ego. Ahamkara. Hier berginnen wir zu handeln. `Ich bin` tritt in Aktion.

 

Ein Weiterer ist Buddhi, die Intelligenz und einer ist Manas, der Geist.

 

„Diese Organe der Bewegung und Sinne der Wahrnehmung kommen in Kontakt mit der äußeren Welt und erschaffen Gedankenwellen, Schwankungen, Überlegungen, Modulationen, Veränderungen“, schreibt Iyengar.

 

„Der Geist, das Selbst und die individuelle Intelligenz kommen in Kontakt mit der Welt und sammeln Informationen, die dann die Äste des menschlichen Seins füttern.“

 

Sie agieren also als Brücke, die das Innere und den äußeren Körper miteinander verbinden.

Unsere Wahrnehmung, unsere Gedanken und Bewertungen kultivieren unser Inneres. Deshalb ist es so wichtig, den inneren Beobachter einzuschalten und bewusst zu selektieren, was wir an Wahrnehmungen in uns hineinlassen, zu reflektieren, was wir denken, denn unsere Gedanken formen unsere Gefühle. Der Geist eines kleinen Kindes ist noch offen, leicht formbar und sehr verletzlich. Wir schützen dieses sich noch entfaltende Wesen, wenn wir es so gut es geht und so lange wie möglich von künstlichen Einflüssen wie Fernsehen und Computerspielen fern halten. Wenn wir Sorge tragen, dass der Geist des kleinen Menschen in Ruhe und Naturverbundenheit aufwachsen kann. Wir sind präsent für unsere Kinder, wenn wir achtsam mit auf der Brücke stehen und darüber wachen, mit was sich der kindliche Geist im Außen verbindet.

 

In der heutigen Zeit liegt unser Interesse viel zu viel im Außen. Yoga ist vielerorts in der „modernen Welt“ zum Körperkult verkommen. Auch Yogamodels entsprechen dem künstlich fotogeshopten Körperbild unserer Zeit und tragen so dazu bei, dass besonders Frauen sich in ihren Körpern nicht mehr zu hause fühlen, ihn nicht mehr als Instrument wahrnehmen, auf dem sie spielen können. Mehr als 80% aller Frauen mögen ihren Körper nicht. Dabei beklagen sie hauptsächlich die äußere Form. Wie traurig.

Wir vergessen völlig, dass der Kontakt nach Außen dazu da ist, unser Inneres zu versorgen. Die Säfte fließen im Inneren des Baumes, geschützt von der Rinde, bis tief in die Wurzeln hinein.

 

„ Unsere Organe der Bewegung und Wahrnehmung dienen dem Ansammeln von Wissen und Verständnis, kultivieren Intelligenz und Ego und füttern somit das Selbst und die Seele, deren Bestimmung es ist, die Essenz des großen Ganzen zu umfassen.“ Iyengar in Tree of Yoga

 

Wenn wir Asana üben, spüren wir das Fließen von Energie in uns, sofern unsere Wahrnehmung im Inneren liegt.

Beim Baum sind die Früchte außen und oben. Beim Menschen ist das Gehirn oben. Wir können unseren Geist nur kultivieren, wenn wir ihn wahrnehmen. In Shavasana halte ich die Schüler immer wieder an, ihr Gehirn zu entspannen, es sinken zu lassen. So möchte ich ihr Bewusstsein für den Geist, das Gehirn, die Intelligenz, aktivieren. Das Gehirn ist an der Peripherie des Bewusstseins. Von hier wandern wir nach Innen, zu den Wurzeln. Von der Peripherie ins Innere vordringen. Das macht Yoga aus. Raus aus dem Kopf. Wir denken alle viel zu viel und verlieren so den Kontakt zu all den anderen Teilen unseres Seins.

 

„ Bewusstsein ist z.B. immer präsent in unseren Fingern. Meist sind wir uns dessen nicht bewusst. Also schläft unser Bewusstsein in unserem Finger.“

Bewusstsein ist überall in unserem Körper vorhanden. Auch wenn es schläft. Wahrnehmung entsteht, wenn Bewusstsein geweckt ist.

„Schlafendes Bewusstsein zu wecken, das ist Wahrnehmung.“

 

Durch langjähriges Üben von Yoga erweitert sich deine Wahrnehmung. Man nennt es Meditation, wenn deine Wahrnehmung so groß und tief ist, wie dein Bewusstsein.

 

„ Wenn die Wahrnehmung schwindet, schwindet die Konzentration und die Intelligenz und das Bewusstsein. Sobald du aufmerksam bist, ist deine Intelligenz konzentriert. Das nennt man Dharana. Wenn Intelligenz und Wahrnehmung konstant bestehen, ist das Meditation. Keine Fluktuation. Objekt und Subjekt sind Eins.“

 

In Dharana sind Objekt und Subjekt noch unterschiedlich. ICH konzentriere MICH. Z.B. konzentriere ich mich auf den Atem und ziehe die Sinne nach Innen (Pratyahara). Ich konzentriere mich auf den Atem, um nicht mit meinen Gedanken, meinen Sinnen, ins Außen zu driften.

 

„ Wenn mein Geist sich im Atem auflöst und der Atem sich vergisst, ist das Samadhi. Dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen mir und dem Atem.“

 

 

 

Der Baum des Yoga

 

 

Die Wurzeln repräsentieren die Yamas (Umgang mit der Umwelt)

 

Der Stamm symbolisiert die Nyamas (Umgang mit uns selbst)

 

Die Äste stehen für Asana (Die Körperpositionen)

 

Die Blätter bilden Pranayama ab (Atemmodulation)

 

Die Rinde ist Pratyahara (Zurückziehen der Sinne)

 

Der Saft ist die Metapher für Dharana (Konzentration)

 

Die Blüte symbolisiet Dhyana (Meditation)

 

Die Früchte sind Samadhi (Versenkung)