Herz-Sutra – Prajnaparamita „Herz des Verstehens“ Essenz der buddhistischen Lehre
(Eine Annäherung nach dem derzeitigen Stand meiner persönlichen Erkenntnis)
Das Herz Sutra wird im Mahayana Buddhismus täglich von Mönchen und Laien rezitiert.
Thich Nhat Hanh übersetzt Prajnaparamita als Vollkommenes Verstehen. Im Zen übersetzt man auch gerne mit „Vollkommene Weisheit“, wobei Weisheit, so wie wir den Begriff verwenden, ein eher statischer Begriff ist. “Verstehen“ aber drückt etwas Fließendes, nicht Fassbares aus. Dieses Fließende möge sich in uns ausbreiten, uns intuitiv durchdringen. Das geht nicht mit Wissen und Denken, sondern es geschieht, wir können uns dafür öffnen und es empfangen.
Das Prajnaparamita, das Herz Sutra, entstand zu Beginn unserer Zeitrechnung in Indien, wanderte dann über China, Südostasien und Japan zurück nach Tibet. Seit ca 30 Jahren wird es von Zen- und tibetischen Lehrern zur Unterweisung in die Meditation gelehrt.
Es gibt eine Legende um das Prajnaparamita: Buddha selbst soll es gelehrt haben. Da es aber so schwierig zu verstehen war für seine Schüler, brachte er diese Schriften auf den Grund des Meeres, wo sie von den drachenähnlichen Schlangen (Nagas), aufbewahrt wurden. Etwa 200 Jahre später stieg Nagarjuna (wörtlich: weiße Schlange), ein großer indischer Philosoph, in die Unterwasserwelt hinab, brachte Licht in die Sutren und schenkte sie den Menschen. Arjuna bedeutet: “weiß“ und wird in der indischen Mythologie mit Reinheit verbunden, Naga, die Schlange, ist das Symbol der Weisheit. Nagarjuna erläuterte und verbreitete die Lehre des Gautama Buddha.
Um das Prajnaparamita zu durchdringen, müssen wir das dualistische Denken hinter uns lassen.
Verstehen wir das Herz Sutra, so verstehen wir uns selbst.
Einige erklärende Worte zum Herz Sutra vorweg:
Buddha spricht in diesem Text zu seinem Schüler Sariputra.
Avalokiteshvara ist der Buddha des Mitgefühls, ein Bodhisattva. Bodhi heißt erwacht sein und sattva heißt Lebewesen. Ein Bodhisattva ist also ein Erwachter. Ein Erwachter der nicht ins Nirvana eingeht, sondern sein Leben weiterhin, auf der Erde, dem Helfen geweiht hat. Ein Bodhisattva hilft den Menschen zu erwachen.
Die fünf Skandhas sind Körper, Gefühl, Wahrnehmung, Geist und Bewusstsein, die fünf Elemente also, die einen Menschen bilden und die sich wechselseitig bedingen.
PRAJNAPARAMITA - LEHRREDE VOM HERZEN DER VOLLKOMMENEN WEISHEIT
Bodhisattva Avalokitesvara in der Übung der tiefen, transzendenten Weisheit
erkannte, dass alle fünf Skandas leer sind und überwand so alles Leiden -
Sariputra. Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist wirklich Leere, Leere wirklich Form. Das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und
unterscheidendes Denken. Sariputra, die Formen aller Dinge sind leer, sie entstehen nicht und vergehen nicht, sie sind nicht rein und nicht unrein, nehmen nicht zu und nicht ab. Daher ist in der
Leere keine Form. Weder Empfindung, Wahrnehmung, Wollen oder unterscheidendes Denken, weder Auge, Ohr, Nase, Zunge oder Körper, weder Farbe, Ton, Duft oder Geschmack.
Weder Berührbares noch Vorstellung, weder ein Bereich der Sinnesorgane noch ein Bereich des Denkens, weder Unwissenheit noch ein Ende von Unwissenheit. Und so gibt es weder Alter noch Tod, noch
ein Ende von Alter und Tod, weder Leiden noch Entstehen von Leiden, kein Anhäufen, Vernichten, keinen Weg, weder Erkennen noch Erreichen, weil es nichts zu erreichen gibt. Ein Bodhisattva lebt
aus dieser Weisheit, ohne Hindernis im Geiste, ohne Hindernis und daher ohne Furcht. Jenseits aller Illusionen ist endlich Nirvana. Alle Erwachten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft
leben aus dieser transzendenten Weisheit, erreichen die höchste Erleuchtung, vollkommen und unübertroffen. Wisse daher, dass die transzendente Weisheit das große Mantra ist, das große strahlende
Mantra, das unübertroffene Mantra, das unvergleichliche Mantra, das alle Leiden nimmt. Das ist wahr und ohne Fehl. Das ist das Mantra verkündet in der transzendenten Weisheit:
GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SVAHA
Um uns diesem Text zu nähern, machen wir uns als erstes mit dem Phänomen der Verbundenheit aller Dinge vertraut.
Alles findet sich in Allem wieder. Thich Nhat Hanh erklärt es sehr schön so: Die Wolken, und der Regen, den sie bringen, befeuchten den Wald, lassen Bäume wachsen und diese finden sich in jedem Stück Papier. Auch der Holzfäller und die Nahrung die ihn lebendig hält, die verarbeitende Fabrik, der Papierverkäufer, finden sich in jedem Blatt Papier.
Die Familie des Waldarbeiters und des Fabrikarbeiters, über Generationen zurück, finden sich in diesem Blatt Papier. Wenn wir dieses Blatt Papier betrachten, findet sich auch unser Geist darin und der Geist desjenigen, der es beschrieben hat.
„Daher können wir sagen, dass alles in diesem Stück Papier enthalten ist. Ihr könnt nichts herausgreifen, was nicht darin ist – Zeit, Raum, die Erde, der Regen, die Mineralien der Erde, der Sonnenschein, die Wolke, der Fluss, die Hitze. Alles existiert gleichzeitig in diesem Stück Papier. Das Stück Papier ist, weil alles andere ist.“ Thich Nhat Hanh
Das Herz Sutra ist der Kern der buddhistischen Lehren des Mahajana-Buddhismus. Es geht um den Zusammenhang zwischen Leerheit und bedingtem Entstehen. Als Menschen sehen wir ursprünglich erst mal nur Farben und Formen. Unser denkender Geist macht daraus Dinge, Gebilde, Bäume, Menschen, Häuser, Autos etc.
Es gibt die Welt des Wissens, des Tuns, des Fühlens und es gibt die Welt des intuitiven Erfassens, die Welt, die sich nicht in Worte fassen lässt. Es erstaunt mich immer wieder, dass wir der rationalen Weltsicht so viel Wert beimessen, wo doch das Leben selbst hauptsächlich vom Irrationalen regiert wird. Liebe ist irrational, Trauer, Zweifel, Hass, Gier sind irrational. Sogar Ethik, Moral und Ästhetik sind nicht rational, sondern vom geltenden Zeitgeist abhängig. Und dieses Irrationale ist das, was uns zutiefst berührt, ohne unser Zutun, mitten im Herzen. In der Meditation nähern wir uns diesen Momenten – reines Sehen, reines Hören, reines Spüren......
Wir kennen es alle. Wenn Musik uns im Inneren berührt und wir nicht mehr die einzelnen Töne wahrnehmen. Wenn wir ein Gemälde betrachten oder einen geliebten Menschen und ein warmes Gefühl von Liebe in uns aufsteigt, ohne dass wir analysieren, was wir an Form sehen. Oder Liebe, und gar auf den ersten Blick – das kann man nicht erklären. Diese andere Dimension des Lebens, dieses intuitive Verstehen, wird im Buddhismus Leere genannt. Wir können diese Dimension leben, aber nicht fassen, nicht in Worte bannen.
Wenn wir uns in Beschreibungen, Erklärungen, „ja aber...“ oder all den tausend Fragen verlieren, dürfen wir ausatmen und uns damit befrieden, dass es keine Antworten gibt, dass es keine Antworten geben muss, dass Vieles ein ewiges Geheimnis sein darf. Dass das Leben uns aufträgt, uns in Hingabe und Demut zu üben. Die Weisen aller Zeiten haben „ich weiß es nicht“ gesagt. Bereits in der Antike sagte Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Und bereits 400 Jahre früher etablierte der Buddha Shakyamuni die Lehre von der Leerheit aller Dinge.
Form ist Leere, Leere ist Form, sagt das Herz Sutra. Ein Blatt Papier ist Form, es hat eine Form, eine Konsistenz. Wenn wir das Papier, wie weiter oben, zurückführen auf alles was darin enthalten ist, landen wir letztendlich bei den Atomen. Also dort, wo auch die Wissenschaft keine Antworten mehr weiß, dort wo für viele Menschen die Spiritualität beginnt, ob sie nun Gott, Allah, große Kraft oder anders heißt. Beides ist gleichermaßen da. Form und Leere.
Die Welt der Formen umfasst Sinneseindrücke wie hören, riechen, spüren, sehen, tasten, schmecken und alle Dinge, die daraus entstehen: alle Konzepte, die aus unserem Geist heraus entstehen. Ich sehe und berühre das Blatt Papier, benenne es, gebrauche es.
Was bleibt, wenn wir all diese Sinneseindrücke, Konzepte, Zuschreibungen weglassen? Was bleibt ohne ich bin, ich habe, ich mache? Dann bleibt Leere, die alles enthält.
Alles ist unbeständig. Darauf verständigen sich alle buddhistischen Schulen. Das haben alle Lehrer, alle alten Patriarchen und Patriarchinnen, über Jahrhunderte versucht zu erklären. Das versuchen seit Jahrhunderten die SchülerInnen zu verstehen.
Und alles bedingt einander. Eine Liebesbeziehung ist dadurch existent, dass sie funktioniert. Wenn sie nicht mehr spürbar ist, wird sie langsam vergehen. Und so ist es mit allem. Solange es wirkt, ist es da. Ein Blatt Papier vergeht mit der Zeit von selbst. Ich kann es aber auch zerreißen oder verbrennen. Dann ist es in die Unbeständigkeit eingegangen. Leerheit bedeutet also, dass da nichts wirklich Fassbares ist, dass alles im Wandel ist, dass alles letztlich auch leer ist. Wenn wir alle Konzepte gehen lassen, bleibt die Leerheit. Es gibt keine Wirklichkeit, keine Wahrheit. Es gibt nur Staunen, Neugierde und die tröstliche Gewissheit, dass ich nichts weiß und nichts wissen muss.
„Mach nicht so viel Geschisse um dich selbst“ hat mein Zen-Lehrer vor Jahren zu mir gesagt. Dieser Satz hat mich entspannt, hat mir die Augen geöffnet, hat mich dazu angehalten alle Vorstellungen davon wie ich, die anderen und die Welt zu sein haben, loszulassen und mich, die anderen und die Welt so zu nehmen, wie sie sind.
„Alles ist leer, weil es bedingt entsteht und vergeht“. Alles ist leer von eigenständiger Existenz und deshalb erfüllt von allem. Wir können uns der Leerheit annähern indem wir aufhören zu denken, zu analysieren. Leerheit erschließt sich, wie gesagt, intuitiv. Hingabe und Vertrauen sind Zutaten, die uns bei der Erfahrung von Leerheit unterstützen.
„Form, Empfindungen, Wahrnehmungen, geistig-psychische Formkräfte und Bewusstsein müssen, um leer sein zu können, existieren.“ (Thich Nhat Hanh)
.....und so gibt es weder Alter noch Tod, noch ein Ende von Alter und Tod........so sagt das HerzSutra. Wir werden nicht geboren und sterben auch nicht. Das klingt abstrus. Aber wenn wir Leben und Sterben wirklich durchdringen, dann werden wir diese Worte verstehen. War ich schon existent bevor ich geboren wurde? Das ist einfach. Natürlich war ich schon existent. Ich war bereits Monate im Bauch meiner Mutter lebendig. Und davor? Davor war ich im Ei und im Samen existent. Davor in den Genen meiner Eltern und in den Genen aller Vorfahren. Wir Menschen bestehen zum größten Teil aus Wasser. Also bin ich auch im Wasser existent. In den Wolken, in der Sonne und und und.............alles bedingt einander, alles ist in allem vorhanden. Wenn meine menschliche Existenz zu Ende ist, werde ich vielleicht verbrannt und meine Asche geht ein in die Erde, oder wird ins Meer gestreut. Dann findest du mich in den Wolken, in jedem Salzkorn, in den Blumen, den Bäumen, dem Getreide, den Tieren, den Menschen, die das Getreide essen und die Blumen bewundern und so weiter. Ich bin mit der Erde, die mich nährt, verbunden, wie ein Fötus mit der Nabelschnur der Mutter.
Es gibt also nichts zu erreichen. Alles ist immer da. Alles ist mit allem verbunden und alles ist von allem durchdrungen.
Und so ist das Durchdringen des Herz Sutra dazu prädestiniert, uns von unseren Ängsten zu befreien.
Es endet mit dem buddhistischen Mantra:
Gate Gate Paragate Parasamgate Bodhi Svaha.
Gate heißt gegangen. Gegangen vom Leid zum Erwachen.
Paragate heißt, den ganzen weiten Weg von einem zum anderen Ufer gegangen.
Sam bedeutet, alle. Alle sind zum anderen Ufer gegangen. Von der Achtlosigkeit zur Achtsamkeit gegangen.
Bodhi ist das Erwachen und Svaha ist ein Ausdruck der Freude.
Gate Gate Paragate Parasamgate Bodhi Svaha.
Gegangen, gegangen, den ganzen Weg hinübergegangen, alle sind ans andere Ufer gegangen, Erwachen, große Freude.
Kobun Chino übersetzt das Gate-Mantra folgendermaßen:
„Zerfalle, zerfalle in all deine Teile, wir können nichts dagegen tun.
Es gibt nichts, woran man sich hängen kann“