Ryokan sagt:
In der Stille am offenem Fenster
Sitze ich in formeller Meditation,
trage mein Mönchsobergewand.
Nabel und Nase in einer Linie.
Ohren parallel zu den Schultern.
Mondlicht durchflutet den Raum;
Der Regen hat aufgehört,
Aber vom Dachvorsprung tropft es und tropft.
Vollkommen dieser Augenblick -
In der unermesslichen Leere
vertieft sich mein Verstehen.
Seit Mitte Oktober hat sich das Land um mich in ein eintöniges Grau verwandelt. Fast nie schafft es ein Sonnenstrahl, die dicke Wolkendecke zu durchbrechen. Wie schon Zen Meister Ryokan im 18. Jahrhundert, so sitze auch ich in Stille am Fenster. Seit Wochen macht mir das ewige Grau zu schaffen. Ich forme meine Gedanken. Sie bestimmen mein Fühlen: das Grau nimmt mir die Freude, es lähmt mich und es weckt so viel Sehnsucht in mir. Sehnsucht nach goldenem Licht, nach Wärme, nach Blau, nach Freundlichkeit und Fröhlichkeit.
Damit das Sehnen nicht zur Sucht wird halte ich inne. Lese wieder und wieder Ryokans Gedicht.
......Vollkommen dieser Augenblick....... schreibt er.
Ich polarisiere. Grau und blau, warm und kalt, Regen und Trockenheit, hell und dunkel. Meine bewertenden Gedanken versperren den Weg zur Vollkommenheit des Augenblicks.
Eine Freundin von mir sagt: es regnet, wie schön, die Natur macht sauber.
Ja, ich weiß, das Glas ist halb voll oder halb leer.
Nebelschwaden steigen aus dem Grün der Täler und Wälder hinauf. Als würde die Erde ihren kalten Atem ausstoßen. Ein Rotmilan zieht seine Kreise am Himmel. Der Boden ist durchtränkt vom Wasser. Genährt. Die Baumwipfel rauschen im Wind. Der Regen vermischt sich mit Tannennadeln. Am Morgen liegt der Frost auf dem Kürbis.
Winter. Zeit der langen Nächte. Zeit der inneren Einkehr. Grau. Zeit, die innere Stille zu erkunden. Raum der Leere.
Nabel und Nase in einer Linie.
Ohren parallel zu den Schultern.
Jetzt.
Und wenn der nächste Sonnenstrahl meine Haut berührt, mich mit Licht durchflutet, werde ich vielleicht immer noch...... atmen.