Balance, Leichtigkeit und Ruhe

Geeta Iyengar sagt: Asanas (Haltungen) sind wie Mantras. Wenn wir sie wieder und wieder üben, tun wir dies mit einem Vorsatz (Artha) und mit Gefühl, Hingabe und Versenkung (Bhavana).

 

Patanjali Sutra 1.28: taj-japah tad-artha-bhavanam

 

Über Jahre wiederholen wir Yogis unsere Asanas, um sie ganz zu durchdringen. Wir vertiefen unser Verständnis für Asana, erfahren die Bedeutung von Asana, und wir tun dies mit Gespür und Hingabe. Wenn wir jede Wiederholung mit unserer Präsens und unserem Gewahrsein füllen, wird das Üben nie mechanisch. Unser Vorsatz ist, ganz wach, im gegenwärtigen Moment zu sein und aktiv alle Veränderungen, alles Neue, wahrzunehmen.

 

Du kannst mit Vorsatz üben und dennoch spielerisch sein. Dich immer neu entdecken. Dich immer neu ausprobieren. Dabei hat alles seine Zeit. Verschiedene Momente, verschiedene Wahrnehmungen. Am einen Tag hältst du leicht und sicher die Balance, stehst in der Baumhaltung wie eine Zypresse. Aufrecht, stark und ruhig. Am nächsten Tag bist du wackelig und ohne Ruhe. Ein Baum, der den Stürmen des Lebens ausgesetzt ist. Lasse dies ohne Wertung so sein, wie es ist. Immer anders, immer neu.

Übe also von ganzem Herzen. Egal wo du bist. Egal, wie du bist.

Nimm z.B. wahr, wie dein Körper mit dem Boden, mit der Erde, verbunden ist. Wie und wo berührst du den Boden? Spüre deine inneren Organe. Höre einige Momente dem Rhythmus deines Herzens zu, erlebe ganz direkt deine Lebendigkeit. Dann nimm Kontakt zu deinem Atem auf. Werde dir bewusst, dass wir alle dieselbe Luft atmen, verbunden mit allem Leben um uns und in uns. Es gibt so viel zu spüren, zu erleben. Von der Peripherie, vom Außen, zum Innen und von Innen nach Außen. Gehen wir ruhig einmal dem Gedanken nach, was für uns das Innen, die Mitte, bedeutet. Sicher ist es mehr als die Muskeln und Faszien, die die Organe und die Wirbelsäule umgeben und halten. Unsere Mitte hat vielleicht auch etwas damit zu tun, wie wir uns fühlen. Dies ist oft etwas nicht Definierbares. Die Mitte unseres Selbst. Nicht umsonst gibt es den Spruch: „Ich muss meine Mitte finden.“

Die Balance finden zwischen den Extremen. Der Buddha empfahl, in seinen Lehrreden, den mittleren Weg. Nachdem er seinen Körper eremitär einer extremen Askese ausgesetzt hatte, und dabei fast starb, erkannte er, dass ein gemäßigter Umgang, mit Körper und Geist, zu Glück und Zufriedenheit führt. Er beschritt den mittleren Weg. Nicht hungern, nicht prassen......die Mitte ist immer eine kluge Entscheidung. Paracelsus sagte: „Alle Ding' sind Gift und nichts ohn' Gift - allein die Dosis macht, das ein Ding' kein Gift ist.“

Von der Peripherie nach Innen und umgekehrt. Wie bei einem Rad. Von den Speichen zur Nabe und von der Nabe zu den Speichen.

Spüre also in deiner Yogapraxis, wo deine Körperteile sind, wie sie sich bewegen und wie viel Mühe dich diese Bewegung kostet. Dann lenke deine Wahrnehmung auf dein inneres Empfinden und stelle die Verbindung zwischen beidem her.

BKS Iyengar hat einmal gesagt: „ Die Balance im Körper ist die Grundlage für Balance im Leben.“

 

Yoga zu üben heißt auch, die Vollkommenheit von Bewegung und Balance zu üben. Balance ist so wichtig im Leben. Wir spüren dies besonders, wenn wir älter werden. Die Balance beim Treppensteigen z.B. erfordert dann ein Treppengeländer. Eine Hose oder Strümpfe anzuziehen erfordert das Sitzen auf der Bettkante. Es gibt unzählige weitere Beispiele von abnehmender Balancefähigkeit im Alter. Fangen wir also in jungen Jahren an, uns in Balancehaltungen zu üben. Das Gleichgewicht zu trainieren. Gleichgewicht = gleiches Gewicht. Und übertragen wir dieses Üben in unser tägliches Leben. Balancieren wir uns bewusst in den Alltagsbewegungen aus. Z.B. kannst du üben, beim Treppensteigen mehr Gewicht auf die Fersen zu verlagern und den Rumpf zu heben. Das schafft Stabilität. Oder du übst, den Blick zu fixieren und ein Bein anzuheben. Standfest zu bleiben, auch auf einem Bein. Dabei wirst du bemerken, dass dein Körper sich aufrichtet und die Körperspannung zunimmt. Du stehst aufrechter im Leben, mit mehr Leichtigkeit und Ruhe. Sich aufzurichten, das Gewicht gleichmäßig zu verteilen, in Balance zu sein, überträgt sich auf den Geist und schenkt ein Leben mit mehr Zuversicht. Yoga schenkt uns viele Möglichkeiten dies zu üben.

„Denke leicht und fühle leicht“ sagt Iyengar in „Licht auf Leben“.

Was denke ich über mich selbst? Wie ist mein Selbstbild?

Weiter sagt Iyengar: „ Denke nicht, du seist ein kleines, zusammengekauertes, leidendes Etwas. Sei dir bewusst, dass du kostbar und anmutig bist.“

Jeder fühlt sich im Leben immer mal wieder hilflos, klein und ohne Hoffnung. Strecke dich nach oben, erhebe dich. Hebe die Rippen, die Muskeln, die Faszien nach oben, Richtung Himmel. Mach das mit Hilfe deines Körpers oder nutze Hilfsmittel, um dich zu verlängern und auszudehnen. Sorge dafür, dass sich dein Herzraum durch diese Streckungen leicht anfühlt. Dass er sich öffnet. Schaffe inneren Raum, indem du den Körper öffnest und streckst.

Und dann übe alle Arten von Umkehrhaltungen. Im Liegen z.B. lege ein Kissen oder einen Yoga Klotz unter dein Kreuzbein, sodass das Becken höher liegt als der Herzraum. Das beruhigt die Nerven, führt zu einem Perspektivwechsel und kreiert Leichtigkeit im Leben.

 

Denke leicht und fühle leicht.

 

Kinder haben noch die Fähigkeit durch Imagination und Spiel die Kraft ihres Geistes zu aktivieren und sich selbst zu transformieren. Meine Enkelin Juli z.B. glaubt auch mit 6 Jahren noch immer, dass ihr Großvater zaubern kann. Am liebsten Gummibärchen. Mittlerweile übt sie auch selbst zu zaubern. Und sie kann es. Wird zur Zauberin. Dieses Spiel schenkt ihr Freude und Kraft.

Sobald wir als Kinder dann zur Schule gehen, trainieren wir Konformität und rationales, materielles Denken. Ich wünsche mir, dass wir alle unser inneres Kind niemals verlieren. In meinem Yogaunterricht halte ich die TeilnehmerInnen immer wieder dazu an, ihr inneres Kind frei zu lassen, spielerisch mit den Yogahaltungen umzugehen, zu lachen, neugierig zu sein und die kreativen Anteile ihres Selbst zu fördern. Spontaneität üben und zulassen. Der Kraft unserer Imagination einen Raum geben, damit sie sich wieder entfalten kann.

 

Gib deinen Erfahrungen einen anderen, einen neuen Rahmen. Kreiere Veränderung. Veränderung im Denken und im Handeln. Neugierig. Offen. Die Umkehrhaltungen des Yoga geben uns ein Werkzeug an die Hand, dieses neue Imaginieren zu üben und zu erfahren. Ich habe eine 76 jährige Schülerin die vor einem Jahr ihren ersten Kopfstand übte. In ihrer Vorstellung sah sie sich im Kopfstand und dann begann sie zu üben. Heute, ein Jahr später, beherrscht sie diese Umkehrhaltung mit Leichtigkeit und großer Freude. Du kannst eine spezifische Yogahaltung imaginieren und entzündest mit dieser Imagination das dazugehörige Bewegungszentrum im Gehirn. Um mit Iyengars Worten zu sprechen: „ You can think light and you can feel light.“

Finde heraus, wie dein Denken dein Fühlen formt.

Stelle dir vor, unter deiner Haut ist Licht, Leichtigkeit und Raum. Wie verändert dieser Gedanke deinen Atem und dein Selbstbild. Strecke dich, werde groß, fühle dich kraftvoll, leicht und ruhig.