Delhi, Mitte April, 43 Grad
Der Rhythmus des Deckenventilators lullt mich ein. Der Dauerwind in meinem Zimmer hat mir eine Bindehautentzündung beschert. Die Luft ist nicht wirklich kühler durch das Ventilieren, sie
bewegt sich nur. Reglos liege ich auf meinem Bett und weiß genau, dass es auch abends, auch nachts, nicht abkühlt. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit hat eine Hitzewelle Nordindien erfasst. Und
ich natürlich mittendrin. Ich lasse ja nie etwas aus. Schlammflutkatastrophe, Beinbruch in den Bergen, trekken im Regen, Krankenhaus in Leh, Bürgerkrieg in Kashmir. Diesmal halt Hitzewelle. Die
Hitze legt mich lahm. Kein Appetit, was ja bei meiner Fülle nie schadet und schlechter Schlaf. Letzte Nacht wachte ich nass geschwitzt auf. Das war eine wirklich neue Erfahrung. Du legst dich
splitternackt hin, bloß keine Zudecke, nein auch kein Laken, und schwitzt trotzdem. Duschen hilft auch nur etwa 30 Sekunden. Also übe ich mich mal wieder im loslassen. In Hingabe. There is no use
in complaining. Das kann man ja nicht genug üben. Ein wahrhaft großer Geist ist der, der alle Wertungen getrost ziehen lässt.
Im TukTuk vorhin schlug mir heißer Wind ins Gesicht, als würde ich den heißen Fön auf mich halten. Da ist es tatsächlich besser, man steht an der roten Ampel oder ist mal wieder im Stau
gefangen. Sobald das TukTuk Fahrt aufnimmt, werde ich wieder zur weißen Muslima – diesmal aber nicht wegen Staub und Abgasen, sondern wegen zu heißem Wind in meinem Gesicht. Wie gut, dass es
Tücher/Schals gibt.
Die Hitze macht mich langsam. Ich gehe viel langsamer, ich handele langsamer, ich denke langsamer. Die Temperatur ist somit eine gute Hilfe bei meinem Training, die Dinge etwas langsamer
anzugehen.
Normalerweise, ohne 43 Grad, ist Langsamkeit eine Herausforderung für mich. Langsam sein macht mich ganz nervös. Hier gibt es kein Müssen, kein besser sein, kein perfekt sein, kein
pünktlich sein- was eh unmöglich ist, bei dem hiesigen Verkehrsaufkommen. Die Mussturbationen kann ich gleich mal abhaken.
Mitten im Verkehrschaos sehe ich doch tatsächlich zwei Elefanten. Nein, keine Fatamorgana. Große, ausgewachsene Elefanten mit ihren boys. Und sie schreiten zwischen den Autos, ohne
Schuhe, auf dem kochend heißen Asphalt dahin. Elefanten haben sehr sensible Fußsohlen. Wie müssen die schmerzen, wieviel Leid erfahren sie da. Ich bin ganz geschockt, vergesse sogar die Hitze.
Aus dem Nichts kommen zwei Fahrräder auf die Fahrbahn geschossen, über und über mit Gasflaschen beladen. Ich denke träge, Gas, Erschütterung, Hitze. Nun gut, es ist kein Nitroglycerin, aber
trotzdem, es sieht gefährlich aus, fast schon unwirklich.
Auf dem Mittelstreifen des Highway lebt eine Familie mit vielen Kindern. Ein Bettgestell steht dort, auf dem sich gerade drei Kinder lausen. Das bescheidene Hab und Gut liegt verstreut im
Staub herum. Eine müde Mutter ist damit beschäftigt, einen Topf zur Feuerstelle zu tragen. Die größeren Kinder haben ein Baby im Arm und betteln die vorbeifahrenden Autos an. Klopfen an die
verschlossenen Scheiben und zeigen erst auf das Baby, dann auf ihre Münder.
Dafür gibt’s in Delhi kaum noch Kühe auf den Straßen. Wohin sie die wohl, trotz ihrer ganzen Heiligkeit, verbannt haben. Von der Spiritualität Varanasis ist in Delhi nichts mehr zu spüren.
Hier tobt sich der Turbokapitalismus neben der Armut aus und die Beschaulichkeit der Altstadt Varanasis ist Vergangenheit. Die Autoindustrie scheint sich hier in Delhi besonders zu
bereichern.
Nun sitze ich am Flughafen. Check in war wie immer easy. Das Gate für den Flug nach Srinagar ist in der hintersten Ecke des Flughafens. 15 Minuten vor boarding sitzen hier kaum Menschen.
Kashmir, die Krone Indiens, ist als Reiseziel für Touristen zu gefährlich. Ich bin die einzige Fremde. Immer wieder toben hier Unruhen und das besonders auf dem Land, dort, wo die großartigen
Trekks in die Berge losgehen. In Srinagar selbst scheint es gerade ruhig zu sein, sagt Sultan, mein langjähriger Freund vom DalSee. Aber selbst in Delhi weiß das niemand zu
unterscheiden. Da muss man schon Kontakt zu den Einheimischen haben. Also, immer noch keine Touristen für den Dalsee. Kashmir lebt vom Tourismus, sagt Mr Jaysing zu mir beim Frühstück, wie soll
das nur ökonomisch weitergehen für all die Menschen. Er sorgt sich. Das hat er letzten Sommer schon getan und er ist in Delhi ein Kashmir Experte des Guardien. Schon am Gate erlebe ich ein
anderes Indien. Die Frauen sind verschleiert, die Männer in traditionellen langen weißen Kurtas und dem kleinen Häkelmützchen. Der Hang der indischen Frauen zu Glitzer, Gold und Farben, ist auch
in Kashmir ungebrochen. Kommt halt nur ein Schleier übers Haar. Tschador sieht man eher selten. Kashmirs Islam ist sufistisch und daher gemäßigt. Der junge Mann neben mir erzählt mir, dass Modi,
der Ministerpräsident, in den letzten Tagen ein neues Gesetz erlassen hat. Es sei gut für die muslimischen Frauen. Denn nun sei es verboten sich, einfach so, scheiden zu lassen. Muslimische
Männer hatten bisher das Recht, sagt er, sich drei Mal, ohne finanzielle Folgen, von ihren Frauen scheiden zu lassen. Dazu bräuchte es nicht mal einen Richter. Das ginge sogar am Telefon. Ein
Anruf bei der Ehefrau genüge, um sie zur Ex zu machen, schutzlos, ohne Einkommen, und die Kinder bleiben beim Mann. Das geht nun nicht mehr. Es muss ein Richter her und der Ehemann ist
verpflichtet, weiter für die Exgattin zu sorgen. Der junge Kashmiri hat sich in Rage geredet. Er empört sich. Ich bestärke ihn. Empörung ist wichtig. Er sagt, die muslimischen Mullhas laufen
Amok, weil sie das neue Gesetz unmöglich finden. Nun, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Da wird dem Machismo ganz schön der Schwanz gestutzt. Meine Wartezeit am Gate wird durch die lebhafte
Diskussion mit der Jugend Srinagars verkürzt. Ich weiß schon lange, dass Kashmiris sich für Politik interessieren. Wenn Kashmir morgens erwacht wird Tee getrunken, Straße gekehrt, Zähne geputzt,
natürlich draußen, UND Zeitung gelesen. Eine in Urdu, einer der vielen Sprachen des Subkontinents, und natürlich The Times Of India.
Der Anflug auf Srinagar ist atemberaubend. Das weite Kashmir Tal leuchtet grün und gelb. Reisfelder und der Senf in voller Blüte. Dazwischen die Häuser mit den typischen bunten
Dächern in Knallfarben. Blaue, rote, grüne, pinkfarbene Kleckse. Dahinter die schneebedeckten 7000 er der Himalayakette, vielleicht ist einer davon sogar der K2. Wie immer, wenn ich nach Kashmir
komme, bin ich berührt von der Schönheit der Natur. Kein Wunder, dass es hier so viele Naturmythen gibt.
Wie Hinduindien seine Mythen lebt, so tut dies auch Allahindien und jeder auf dieser Erde tut es. Es gibt viele Arten von Wahrheiten. Ojektive Wahrheiten und subjektive. Logische und
intuitive. Manche sind kulturell bedingt, andere universal. Manche basieren auf Beweisen, andere hängen vom Schicksal ab. Von Devdutt Pattanaik lerne ich, dass Mythen eine Wahrheit beschreiben
die subjektiv, intuitiv, kulturell und im Schicksal gegründet ist. Aus den Mythen wachsen intuitive Erzählungen. Um uns den großen Fragen des Daseins zu nähern, helfen uns Mythen. Das letzte
Warum ist nicht ergründet. Und vielleicht haben wir Menschen gerade deshalb unsere Mythen. Um uns dem Umgang mit dem Tod zu nähern, dem letzten Geheimnis. Mythen schaffen Geschichten, Symbole und
Rituale. Gemeinsam konstruieren diese die Wahrheit einer Kultur. Die irrationalen Inhalte vieler Mythen faszinieren uns und ziehen unsere Aufmerksamkeit zu den Dingen, die dahinter liegen. Eine
Gottheit mit sechs Köpfen oder ein Dämon mit acht Armen soll uns an eine Welt mit unzähligen Möglichkeiten erinnern. Gut oder schlecht? Alles ist möglich. Es erstaunt mich immer wieder,
dass wir der rationalen Weltsicht so viel Wert beimessen, wo doch das Leben selbst hauptsächlich vom Irrationalen regiert wird. Liebe ist irrational, Trauer, Zweifel, Hass, Rage, Gier sind
irrational. Sogar Ethik, Moral und Ästhetik sind nicht rational. All das basiert auf gerade geltenden Werten. Was für den einen richtig ist, ist es noch lange nicht für den anderen. Ich bin in
Indien, ich habe Zeit, endlich mal, und es macht Spaß, sich mit den Mythen dieser indischen Kultur auseinanderzusetzen. Es hilft mir dabei die Denkweise der Inder zu verstehen, ihre Sicht auf die
Welt. Und es hilft mir dabei, mich selbst besser zu verstehen, und meinen Umgang mit allen Facetten des Lebens zu überdenken.
Was bleibt ist Respekt. Respekt vor der bunten Vielfalt des menschlichen Denkens und Handelns.