Im Shivatempel der Universität Varanasi - größte Universität Indiens - lerne ich Nandi kennen. Nandi ist ein Büffel und sie ist treue Dienerin und Reittier Shivas. Im weitesten Sinne auch eine Kuh und dementsprechend heilig. Wenn man einen großen Wunsch hat, flüstert man ihn in Nandis Ohr. Nandi trägt diesen Wunsch zu Lord Shiva, der alles in seiner Macht stehende tun wird, um ihn zu erfüllen. Überall wo man Shiva findet - in den Tempeln und Häusern - findet man auch Nandi. Ich beuge mich also zu ihrem Ohr und gebe zwei Wünsche in ihre heilige Obhut. Nun hoffe ich auf Erfüllung. Und das Hoffen ist die Energie, die die Wünsche wach hält und nährt. Danke Nandi, aber eigentlich wollte ich doch alle Wünsche ziehen lassen, mich davon befreien. Nun, zwei Wünsche dürfen vielleicht noch da sein. Sie sind auch nicht eigennützig.
An den Wänden im Obergeschoss des Temples finde ich die Baghavad Gita in Gemälden dargestellt. Eines davon zeigt Krishna und Arjuna im Gespräch, am Vorabend der großen Schlacht. Der Gott Vishnu ist der Erschaffer der Welt und er hat sich in vielen Avataren und Göttern inkarniert. z.B in Krishna. In der Baghavat Gita symbolisiert Krishna das unveränderliche Selbst. Den Wesenskern, die Buddhanatur, wie wir im Zen sagen. Und er erklärt seinem Schüler Arjuna wie Leben geht und was Leben lebenswert macht. Arjuna realisiert am Vorabend einer großen Schlacht, dass er am nächsten Morgen gegen seine eigene Familie kämpfen muss. Das alles ist eine Metapher für das größte Schlachtfeld des Menschen. Das eigene Innere. Und Krishna macht Arjuna reif für den inneren Kampf. Er zeigt ihm, was unumgänglich ist und was letztlich nötig ist, um zu erwachen.
Gandhi hat die Gita auf ein Wort runter gebrochen: Verzicht.
Und Gandhi hat sein Leben der Gita geweiht.
In diesem Universitätstempel sind alle Götter vereint. Sie alle haben eine Nische, eine Grotte, einen würdigen Platz.
Wir ziehen weiter zum Hanumantempel. Keine Affen weit und breit. Die Mittagshitze hat sie in die Bäume getrieben. Rohit meint, das wäre meinen Kräften zu danken. Ich mag die Affen nicht. Sie sind so unberechenbar, so dreckig, so gierig, so unheimlich menschlich. Ich mag nur Hanuman.
Dafür gibt es hier um so mehr Gläubige. Und noch mehr Hanuman typisches Zuckerwerk. Kleine gelbe süße Bällchen. Zum Hanuman-Jayantri – Hanumans Geburtstag Anfang April – gibt es sie überall. Fein verpackt sind sie hier im Tempel. In einer Pappschachtel, mit einem roten Band verschlossen, tragen die Menschen diesen Schatz nach hause.
Fünf Tuktuk Minuten weiter, im Tempel der Göttin Durga, malt der Brahmanen Priester mir rote Streifen und einen roten Punkt auf die Stirn. Dann legt er mir ein kunstvoll geknüpftes schwarzes Baumwollband um dem Hals. „For protection-safe journey“, sagt er. Nun ist die große Kraft der Durga in mich eingegangen. Das kann ja nur nützlich sein. Rohit meint, ich hätte diese Kraft sowieso. Ich sei eine very strong lady. Wie dem auch sei, vielleicht lässt sich diese göttliche Durga Kraft ja speichern und ich kann sie nutzen, wenn ich mal einen schwachen Tag habe. 100 Rupees stecke ich in die Donationbox, das muss sein. Mit diesem Geld kochen die Tempelbrahmanen später Reis und Dal für die Armen.
Am nächsten Morgen sitze ich in Jyotis Cafe zum Frühstück. Drei Meter entfernt von mir, auf der anderen Gassenseite, liegt eine Kuh im Hauseingang und käut mit geschlossenen Augen wider. Neben ihr steht ein junger Mann an die Hauswand gelehnt, völlig bekifft, und starrt mich ohne Unterlass an. Was er wohl sieht, frage ich mich. Drei Hunde schlummern aneinander gekuschelt zu meinen Füßen. Neben dem Bekifften kämmt ein Vater im Lungo seiner dreijährigen Tochter das zerzauste schwarze Haar. Ihre etwa 14jährige Schwester sitzt mit gesenktem Kopf auf den Stufen, ihrem Handy ergeben. Ein orange gewandeter Sadhu zieht majestätisch vorüber. Er trägt schwer an seinem Turm aus Rastalocken, auf dem Kopf zusammengebunden zu einer Art Krone. Die Krone der Hauslosen. Mehrere lange Ketten aus dicken Rudratschis, den Tränen Shivas, baumeln um seinen Hals. Ich will mein Frühstück bezahlen, aber Santosh, der Cafe Besitzer, kann gerade kein Geld entgegen nehmen. „Five minutes, I’ll be back“. Sagts und verschwindet, zwei Räucherstäbchen schwenkend, die er an der Ecke für Gott Shiva anzünden will. 10h, dieses Opfer muss jetzt sein.
Ich lehne mich zurück. Längst habe ich mich dem Rhythmus der Stadt angepasst. Gegenüber hat sich die Kuh erhoben und schabt sich genüsslich den Hals an der Hauswand. Dann schiebt sie ihre raue Zungenspitze einige Male in jedes Nasenloch, dreht sich zur anderen Seite und legt sich wieder hin. Auch Kühe müssen sich im Schlaf mal drehen.
Rohit sagte gestern, wir trinken als Babys die Milch unserer Mütter. Später trinken wir die Milch der Kühe, also sind die Kühe auch unsere Mütter. Und Mütter sind heilig.
Ja, so einfach ist das.
Und dann ist da natürlich auch noch Nandi.
In der Stadt bricht der Verkehr quasi zusammen. Doppelt lange Tuktuks, mit zwei gegenüberliegenden Sitzbänken, versperren beim abbiegen die Spur. Ein Gemüsekarren bleibt in einem Schlagloch stecken. Zwei schlafende Kühe stört das alles gar nicht, sie blockieren eine ganze Spur. Alle hupen, besonders die unzähligen Mopeds. Nichts geht deswegen schneller. Aber hupen ist in diesem Land so eine heilige Pflicht, wie den Göttern zu huldigen. Die meisten Fahrzeuge fahren ohne Spiegel. Sozusagen intuitives Fahren. Da macht es schon Sinn sich, von hinten nähernd, durch hupen bemerkbar zu machen. Bei uns heißt es, bitte nicht hupen. Hier ist das Motto: please blow horn. Ja, wirklich, so steht es auf den Rückseiten jedes LKW. Der Inder, der sich ansonsten im Straßenverkehr an gar nichts hält, befolgt dieses Gebot akribisch. Ich halte mich an das Motto: das stört keinen großen Geist. Meine Ohren schmerzen trotzdem. Mein Schultertuch hat in Varanasi eine dritte Bedeutung erlangt. Erstens, schön. Zweitens, sehr nützlich es um die Schultern zu legen bei eisigen Klimaanlagen, und jetzt drittens, als Mundschutz gegen Abgase und den ewigen indischen Staub ist es nicht zu unterschätzen. Ich stehe am Straßenrand, warte auf mein Taxi und betrachte das Chaos. Mit meinem Mundschutz sehe ich aus wie eine Muslima in weiß. Ich lasse meinen Schweiß ergeben an mir hinunterlaufen. 44 Grad, mitten im Stau. Das ist Indien. Das Taxi kommt, ich hatte AC bestellt, also mit Klimaanlage. Die läuft auch auf Hochtouren und hat die Luft im Inneren des Taxis auf gefühlte 37 Grad runter gekühlt. Na immerhin. Der Taxifahrer schaut mich mitleidig an: „three seasons in Varanasi. Four month winter, four month summer, four month rain. Always hot.“ Yes, sehr kluge Sicht auf das Unvermeidliche. Wir quälen uns wie eine dampfende Schnecke raus aus der Stadt. Ich will nach Sarnath. Endlich wieder buddhistische Energie spüren. In Sarnath hielt der Buddha Gautama, nach seiner Erleuchtung unterm Bodibaum in Bodgaya, seine erste Lehrrede und setzte damit das Rad der Lehre, des Dharma, in Gang. Die vier edlen Wahrheiten. Dieses zentrale Thema des Buddhismus erklärte er in Sarnath seinen Schülern. Für eine Buddhistin ist Sarnath ein Platz wie für Christen der Petersdom oder Jerusalem.
Wir brauchen etwas mehr als eine Stunde für die 10 Kilometer von Varanasi nach Sarnath. Mittlerweile ist es 13h, die Mittagshitze ist lähmend. Trotzdem schlendere ich durch den Park, besuche buddhistische Tempel, halte unter den Bodibäumen inne und fühle mich ganz heimisch in Indien. Da wehen endlich wieder buddhistische Fähnchen im Wind, der dicke Hotei steht goldglänzend mit seinem Hanfsack unter einem Baum und lacht mich an, Shakyamuni strahlt so viel Ruhe aus, dass ich ganz beglückt vor ihm stehe und mich drei mal tief verbeuge. Ich habe dich vermisst, Buddha, unter all den bunten Hindugöttern, die unsere menschlichen Anteile so anschaulich verkörpern.
Hier ist sie wieder, die Buddha Stille, die ich so sehr liebe.