Es ist kurz vor fünf. Noch schläft Varanasi. Rohit sitzt bereits am Eingang, die Augen schlaftrunken, und wartet auf mich. Namaste. How are you this morning, madam? Rohit ist immer höflich,
helfend. Er beschützt mich vor den Hörnern der heiligen Kühe, vor den dreisten Affen und er weist mich auf jeden Kuhfladen am Boden hin. " I am here to protect you." Er erinnert mich an Hanuman,
den Affengott, der in seiner tiefen Hingabe an Rama und Sita - die Königskinder des Ramayana - als geliebter und tief verehrter Gott des Schutzes, des Dienens, große Karriere gemacht hat in
Indien. Rohit liebt seinen Job, das ist spürbar. Er weiß wo Westerners sauberes Essen bekommen und er weiß unendlich mehr. Er kennt seine Stadt in und auswendig. Er kennt tausendundeine
Geschichte, erklärt mir die Götterwelt und den Sinn des Lebens. Zu jedem Bauwerk schüttet er eine Geschichte über mich und er ist ein glühender Verehrer von Lord Shiva. Rohit ist mein guide in
diesen Varanasi Tagen. Und Rohit ist 30 Jahre alt, wohnt mit seinen Eltern zusammen irgendwo hier in der Altstadt, aber sie suchen bereits nach einer Frau für ihn. "I hope, she will be nice",
sagt er und lächelt bescheiden. Ohne ihn wäre ich in den verwinkelten Gassen der Altstadt verloren, würde mein Guesthouse niemals wiederfinden. Wir steigen über die schlafenden Hunde, und
zwei Ecken weiter steht sein Motorrad. Hast du keine Helme, frage ich etwas verunsichert. Motorrad fahren gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen und schon gar nicht in Indien. Er winkt
grinsend ab. "We are all in the hands of the Brahma". Nun gut. Wir fahren gemächlich durch die engen Gassen, Slalom um die schlafenden Kühe herum. Alle Läden sind geschlossen. Es ist dunkel und
still. Hier und da sitzt jemand auf den Stufen und putzt Zähne. Auf den Dächern und Balkonen stillen die Affenmütter ihre Kinder. Nach wenigen Minuten bereits entspanne ich mich. Rohit
fährt langsam und sicher, und ich genieße die Fahrt durch die sich immer wieder neu vor uns öffnenden Gassen, durch diese so fremd anmutende, uralte Welt. Als wäre ich aus der Zeit gefallen. Dann
eine größere Straße, ein Feuer am Straßenrand, einige müde aussehnede Männer und ja, der Duft von Chai. Wir halten, Rohit lässt sich den heißen, nach Massala duftenden, Tee einschenken. In
Varanasi verkauft man den Tee in kleinen Tongefäßen. Die werden, nach dem Genuss, der Erde zurückgegeben. Sie verrotten ganz schnell, denn sie sind nicht gebrannt. Sehr umweltbewusst. Und das ist
in Indien ja eher ungewöhnlich. Wir schlürfen, versunken in diese besondere Morgenstimmung, den köstlichen Tee. Dann weiter. Nach wenigen Minuten halten wir am Assi Ghat, dem letzten Ghat am
südlichen Gangesufer. Die Sonnenzeremonie hat gerade begonnen. Sieben junge Priester, in knallrote Seide gehüllt, vollziehen die Rituale mit rauchendem Kampher, Feuerschalen, Mantras und
geblasenen Muschelhörnern. Sie stehen auf Podesten, den Blick gen Osten gerichtet. Und dann taucht der glutrote Sonnenball langsam hinter den Sanddünen am östlichen Ufer auf und die Priester
haben ihr Werk vollbracht. Da ist sie wieder. Die alles nährende Sonne, Vater unserer Erde. Die Priester ziehen, hintereinander her schreitened, hinunter zum Ufer und übergeben Ganga die
Überreste der Zeremonie. Die Asche des verbrannten Kampher, das Wasser aus den heiligen Schalen. Bis zum nächsten Morgen können sie sich nun wieder dem Sanskritstudium widmen.
Auf einer kleinen Bühne am anderen Ende des Ghats haben sich zwei Musiker aus Kalkutta eingerichtet. Ich setze mich zu ihren Füßen nieder und dann verzaubern sie mich mit ihren, zu Musik
gewordenen, Gefühlen. Tabla und Sitar. Ich schließe die Augen und versinke ganz und gar in diesem Kunstwerk aus Rhythmus und Klang. Jeden Morgen spielen hier andere Musiker. Sie reisen aus ganz
Indien an, um einmal an diesem heiligen Ort zu spielen. Klassische indische Musik. Wie alles ein Ende hat und der Veränderung zustrebt, so auch dieser magische Moment. Ganga hat die letzten Töne
bereits mit sich davongetragen, als ich mich umdrehe. Hinter mir, auf dem großen Platz am Ufer, wurden überall rote Teppiche ausgebreitet, während die Musiker spielten. Auf der linken Seite
sitzen Frauen, auf der rechten die Männer. Ein Mann mit langem Haar und pinkfarbener Kurta leitet die tägliche Yogastunde an. Er beginnt mit Pranayama Kapalabati. Die Schüler, aus allen
Altersklassen, schnaufen laut und ziehen die dicken und dünnen Bäuche ein und lassen sie wieder nach vorne schnellen. Der Platz hat sich mit ca 150 Yogaschülern gefüllt. Ganga fließt langsam und
unbeeindruckt von all dem, dahin.
Ich spüre die Sonne heißer werden, als wir den Rückweg antreten.